Vom «Krieg gegen das Virus» zum Krieg gegen die Geflüchteten: Die Sicherheitsmassnahmen gegen das Covid-19 erhöhen die Gewalt an den Grenzen dramatisch

Die griechischen Hotspots, in denen die Geflüchteten zusammengepfercht leben – ohne den Schutz ihrer Rechte und ohne den Schutz vor der Pandemie –, zeigen beispielhaft die durch die Sicherheitspolitiken der europäischen Staaten bedingte Prekarisierung ihrer Lebensbedingungen und ihrer Wege nach Europa. Migreurop verurteilt die Gewalt, die im Namen des „Kriegs gegen das Virus“ gegenüber den Geflüchteten ausgeübt wird, sowie ihre Ungleichbehandlung angesichts der Pandemie und fordert die sofortige Schliessung aller Administrativhaftzentren und Lager, um das Recht der Migrant*innen auf Schutz zu garantieren.

Migreurop veröffentlicht heute ein Video, das die Existenz und das Funktionieren der Hotspots anprangert, dieser Sammel und Sortierstellen für Migrant*innen, die die EU 2016 in Italien und Griechenland eingerichtet hat. In Griechenland hat weder die Umsiedlung in andere europäische Staat [1] noch die Rückschiebung in die Türkei, basierend auf dem «Schmutzigen Deal» [2], die Erwartungen erfüllt; zudem sind beide Massnahmen heute blockiert. Die Hotspots wurden dadurch de facto zu Gefängnissen unter freiem Himmel. 42 000 Menschen sind heute in den fünf griechischen Hotspots «parkiert», deren Kapazitäten eigentlich auf 6 000 Plätze beschränkt sind. Allein jener von Moria auf der Insel Lesbos, der eigentlich auf 2 800 Plätze ausgelegt ist, zählt heute 20 000 Personen. Zur unerträglichen Überbevölkerung, dem Mangel an sanitären Einrichtungen (Trinkwasser, Duschen, Toiletten) und an Nahrung, der Unterbringung in Zelten, was immer wieder zu Kältetoten führt, und den wiederkehrenden Bränden gesellt sich jetzt das Covid-19. Angesichts dieser Pandemie fordern die Staaten ihre Bürger*innen auf, Massnahmen zum eigenen Schutz zu ergreifen, insbesondere durch die Selbstisolation. Die Migrant*innen haben jedoch dieses Privileg nicht. Am 22. März 2020 haben die griechischen Behörden die Zwangseinschliessung der Geflüchteten in den Lagern des Landes ausgerufen, also auch in den Hotspots [3]. Die Überbevölkerung der Lager macht es praktisch unmöglich, eine Ausbreitung des Virus zu verhindern – trotz der Bemühungen der Bewohner*innen, die sich selber organisieren [4]. Die Massnahmen der Regierung setzen diese Menschen wissentlich einem schweren und unmittelbaren Ansteckungsrisiko aus [5].

Die Lage in den griechischen Lagern ist symptomatisch dafür, wie – ausgelöst durch das Virus und die sicherheitspolitischen Massnahmen zu dessen Eindämmung – die Gewalt bei der Kontrolle über die Migrant*innen zunimmt. Während die europäischen Staaten die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung sowohl im Inneren als auch gegen aussen einschränken, vermischen sie den «Krieg gegen das Virus» mit dem Krieg gegen die illegalisierten Migrant*innen, den sie schon seit Jahren führen [6]. Die Verhärtung der Abschottungspolitik und das Aussetzen der Asylverfahren in mehreren europäischen Staaten verschärfen noch die Unsicherheit der Routen der Geflüchteten. Die Gründe für ihre Flucht und Schutzsuche, nämlich die Gewalt in ihren verschiedensten Ausprägungen, sind nach wie vor dringlich.

Bei ihren Versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, können die Geflüchteten auf keine Hilfe mehr zählen, da die NGO’s , die in der Seenotrettung aktiv waren, nach der Schliessung der italienischen Häfen und wegen der Ansteckungsrisiken gezwungen wurden, ihre Aktivitäten einzustellen [7]. Die an die libysche Küstenwache «outgesourcten» Rückschiebungen im zentralen Mittelmeer funktionieren dagegen bestens, genauso wie jene der griechischen und zypriotischen Behörden [8]. Die Gewaltakte gegen Flüchtende auf der Balkanroute nehmen stark zu [9], und die Lage wird wegen des Virus für sie immer prekärer. Die Gewalt an den Grenzen verschärft sich aber auch innerhalb der EU: Die französischen Behörden schicken nach wie vor Menschen nach Italien zurück, das derzeit das Epizentrum der Pandemie ist.

Die Schliessung der Grenzen wird zur Regel, auch für die verletzlichsten Personen, und das obgleich die Expert*innen bezweifeln, dass diese Massnahme eine weitere Ausbreitung von Covid-19 verhindern kann [10], und obwohl es alternative Antworten gibt. Das UNHCR hat denn auch die Staaten dazu aufgerufen, die Grenzen und damit den Zugang zum Asylverfahren nicht zu schliessen, sondern beim Grenzübertritt Tests zur Früherkennung des Virus einzuführen [11].

In der Stunde der Pandemie herrscht das Prinzip des « Jeder ist sich selbst der Nächste » [12] Doch die Politiken der Abschottung dürfen das Recht auf Flucht vor jeder Form von Gewalt nicht aufheben. Wir prangern die Gewaltakte und die Verweigeruung der Grundrechte gegenüber den Migrant*innen an sowie deren Ungleichbehandlung angesichts der Pandemie. Wir begrüssen die Initiative Portugals, alle Migrant*innen zu legalisieren, um ihnen den Zugang zu medizinischen Leistungen zu ermöglichen, und wir fordern die Ausweitung dieser Massnahme auf ganz Europa, und zwar für immer [13].

Seit seiner Gründung prangert Migreurop die Politik der Einschliessung der Geflüchteten in formelle und informelle Lager an und schliesst sich heute den Appellen an, die eine sofortige Schliessung der übervölkerten Hotspots in Griechenland fordern [14]. Das gilt auch für alle anderen Haftzentren und Lager in Europa und an den Aussengrenzen. Deren umgehende Schliessung und die Umsiedlung der Betroffenen an Orte, an denen sie ein würdiges Leben führen können, wenn nötig auch in anderen europäischen Ländern, sind die Voraussetzungen dafür, dass sie ihre Grundrechte wahrnehmen können, zu denen auch das Recht auf Schutz vor dem Virus gehört [15].

Hotspots, echte Schandfelder

In francese

Erklärungen und Aktionen der Mitgliedsorganisationen von Migreurop bezüglich Covid-19 und Migrant*innen:

Belgien:

• Ciré : « Courrier à Maggie De Block : Mesures d’urgence en vue d’endiguer la propagation du COVID-19 aux personnes migrantes », 18 März 2020 (in francese).

• Von mehreren Organisationen getragene Initiativen :
 « Coronavirus: Coronavirus : la détention des personnes migrantes en centre fermé est devenue illégale »,Carte Blanche in der Zeitschrift «Le Vif» vom 18. März 2020
 « Crise à la frontière gréco-turque. Dignité et droits humains : sur les ruines des fondements de l’Union européenne », Presseerklärung vom 18. März 2020
 «Coronavirus : permettre à tous de se confiner est la seule manière d’en sortir», Carte Blanche in «Le Soir» vom 1. April 2020

Spanien :

• Plateforme «CIEs No» (Plattform Nein zu den Ausschaffungsgefängnissen): « La campaña estatal por el Cierre de los CIE exige la urgente puesta en libertad de todas las personas internadas en los CIE », Presseerklärung vom 23. März 2020

Frankreich :

• Anafé ((National Association of Border Assistance for Foreigners) : Demande de libération des personnes maintenues dans les zones d’attente dans les aéroports, Offener Brief vom 20. März 2020

• La Cimade :
 Coronavirus: Réorganisation des activités de La Cimade et demandes transmises au Gouvernement, Presseerklärung vom 17. März 2020
 Loi d’urgence Covid-19  : La Cimade ne relâche pas ses efforts de plaidoyer, Erklärung vom 24. März 2020

• Von mehreren Organisationen getragene Initiativen: :
 Beobachtungsstelle Ausländerinhaftierung : Face à la crise sanitaire, l’enfermement administratif des personnes étrangères doit immédia-tement cesser, Presseerklärung,18. März 2020.
 Coronavirus  : Associations et avocats saisissent le Conseil d’Etat pour demander la fermeture des centres de rétention, Beschwerde von mehreren Organisationen beim Staatsrat vom 23. März 2020

Italien :

• ASGI : Emergenza covid-19. L’impatto sui diritti delle/dei cittadine/i straniere/i e le misure di tutela necessarie: una prima ricognizione,Erklärung vom 22. März 2020

• Von mehreren Organisationen getragene Initiative : « Tavolo asilo al governo e parlamento: considerare gli stranieri », Lancierung der Kampagne «Io Accolgo» («Ich nehme auf»), März 2020

Marokko :

• Gadem : « Covid-19 : le gouvernement marocain en action mais quelles mesures pour les personnes étrangères au Maroc ? », Presseerklärung vom 21. März 2020
• AMDH Maroc : « Nous demandons la protection des migrants/tes dans notre pays contre les dangers de la pandémie de Corona virus et la garantie de leurs droits fondamentaux », Pressemitteilung vom 1. April 2020
• Von mehreren Organisationen getragene Initiative : « Maroc : migrant·e·s et réfugié·e·s sont aussi vulnérables face au COVID-19 », gemeinsame Presseerklärung vom 30. März 2020

Schweiz:

• Solidarités sans Frontières :
 « Coronavirus : des mesures de protection pour tout le monde! », von 60 Organisationen unterzeichneter Appell an die eidgenössischen und kantonalen Behörden vom 18. März 2020
 « Suspension des auditions d’asile pendant une semaine : de qui se moque le SEM ? », Presseerklärung nach dem Interview des Staatssekretärs für Migration Mario Gattiker im «Blick» im März 2020

• Vivre Ensemble : « La politique migratoire plus importante que la santé publique ?», Artikel vom 26. März 2020